02.12.2020

Pflege steht in Deutschland unter Druck – 2/3 der Pflegebedürftigen werden zuhause gepflegt

Deutschlands Gesellschaft überaltert. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt dramatisch an und Fachkräfte fehlen schon heute:

Waren es 2010 noch 2,3 Mio. geht der aktuelle Pflegebericht der Bundesregierung von 3,5 Mio. Pflegebedürftigen in Deutschland im Jahr 2030 und 4,5 Mio. im Jahr 2050 aus. Demenzielle Erkrankungen und Alzheimer nehmen zu und erhöhen die Komplexität der Aufgabe, diese Menschen angemessen zu versorgen. Noch immer werden 2/3 der Pflegebedürftigen zuhause betreut. Der Pflegebericht erwähnt die Herausforderung, bei Angehörigen die Pflegebereitschaft zu fördern und zu erhalten, diese bedarfsgerecht zu unterstützen und auch Ehrenamtliche in ihrem Engagement zu stärken.

Wir befragen Brigitte Bührlen, Vorsitzende der WIR! Stiftung pflegende Angehörige e.V., zur aktuellen Situation

Brigitte Bührlen
Brigitte Bührlen, Quelle: Stiftung Pflegende

Womit haben pflegende Angehörige generell zu kämpfen?

Pflegende Angehörige sind an politischen Entscheidungen, die ihren belasteten Pflegealltag betreffen, nicht beteiligt. Wir haben unser tradiertes – und auf Familienstrukturen des 19. Jahrhundert aufgebautes – System nie wirklich reformiert, es sind lediglich neue und professionelle Versorger hinzugekommen. Einen Rechtsanspruch auf Bezahlung oder Mitsprache haben pflegende Angehörige nicht - obwohl sie die Hauptlast tragen.

Welche Unterstützungsleistungen gibt es für Pflegebedürftige und deren Angehörige?

Es gibt viele „Einzel-Töpfe“ und föderale Regelungen ohne transparente Informationen für die Betroffenen. Die wichtigsten sind Pflegegeld für häusliche Pflege, Pflegesachleistungen, Entlastungsbeträge, Pflegeunterstützungsgeld, Geld für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen, Pflegehilfsmittel und Unterstützung der sozialen Absicherung der Pflegeperson, teilstationäre Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege und Übergangspflege... Wenn ein Pflegegrad festgestellt wurde, kann die pflegebedürftige Person aus der Pflegekasse Unterstützungsleistungen beziehen. Das Pflegegeld wird – sofern die Person zuhause gepflegt wird – an die zu pflegende Person ausgezahlt. Für pflegende Angehörige leitet sich daraus aber kein Rechtsanspruch auf Bezahlung oder transparente Einbindung in den gesamten Versorgungsprozess ab.

Sind die bestehenden Angebote klug aufeinander abgestimmt und wie komme ich zu meinen Leistungen?

Eine Infobroschüre des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) z.B. gibt Auskunft über die beschlossenen Maßnahmen und Pflegeleistungen.

Oft sind aber die vorhandenen Unterstützungsleistungen den Betroffenen gar nicht bekannt. Außerdem werden diese Maßnahmen aus der Verwaltung heraus und aus Anbietersicht entwickelt. Ihre sinnvolle und praktikable Anwendung wird nicht hinterfragt. Die Betroffenen haben sich nach den Angeboten zu richten, nicht die Angebote nach den Betroffenen. Örtliche Sozialstationen und Pflegestützpunkte können helfen, sind aber chronisch unterbesetzt und kennen nicht alle bestehenden Leistungen.

Die Heimunterbringung ist oft der letzte Ausweg, aber sich neben der eigenen Berufstätigkeit um die Eltern zu kümmern ist oft nicht möglich, Mehrfachbelastungen durch Pflege dauerhaft nicht zu stemmen. Welche Auswege könnte es geben?

Wir sollten das Pflegesystem komplett neu aufsetzen. In Skandinavien wurde die Pflege zur staatlichen Aufgabe erklärt und aus Steuermitteln finanziert. Ein Casemanager regelt den Bedarf und organisiert die Pflege. Angehörige können auf Wunsch und entsprechend den eigenen Ressourcen (Teil-) Bereiche der Pflege gegen Bezahlung übernehmen.

Für Deutschland und in einem ersten Schritt würde ich mir den Casemanager wünschen und eine Notfallhilfe, die verlässlich einspringt, wenn schlecht aufeinander abgestimmte pflegerische Maßnahmen kurzfristig ausfallen.

Muss die Politik pflegende Angehörige besser einbinden?

Unbedingt! Die Politik hat die Pflege der freien Wirtschaft und Selbstverwaltung übertragen nach dem Angebots- und Nachfrageprinzip. Sobald aber wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen geht es nicht mehr um die Betroffenen, sondern um Effizienz und Profit. Auch die Verantwortung muss geklärt werden: In Deutschland gibt es keinen staatlichen Schutz – und Kontrollmechanismus in der Pflege.

Pflegende Angehörige und auch behinderte und pflegebedürftige Personen müssen deshalb in jedem beratenden Gremium vertreten sein und kontrollieren können, wofür in Deutschland das Geld ausgegeben wird.

Was können Angehörige selbst zur Verbesserung der Situation tun?

Ich ermutige pflegende Angehörige, ihre Interessen und Wünsche direkt in die Strukturen der Politik zu tragen. Wir sind eine große und relevante Bevölkerungsgruppe und müssen uns besser vernetzen.

Link zu weiteren Infos:

Pflegeleistungen zum Nachschlagen des BMG