05.05.2021

Wie die finnische Künstlerin Jenni-Juulia eine zerbrechliche Welt zur Kunst erklärt

Dass der Traum einer inklusiven Gesellschaft ohne Barrieren keine Realität geworden ist, darauf macht Aktions-Künstlerin Jenni-Juulia Wallinheimo-Heimonen auf ungewöhnliche Art aufmerksam.

Jenni-Juulia Wallinheimo-Heimonen ist ein Gesamtkunstwerk – an ihr und ihrem offenen Wesen, ihrem ungewöhnlichen politisch geprägten Kunstschaffen kann man nicht teilnahmslos vorbeigehen. Ihr Leben mit Osteogenesis imperfecta (OI) - auch Glasknochenkrankheit genannt - und ihre Erfahrungen damit hat sie mit Kreativität und ihrer künstlerischen Ausbildung der Aalto Universität in Helsinki zu einer besonderen Sichtweise verknüpft. Ihre schöpferische Ausdrucksweise ist reich: Angefangen mit Textilkunst, hat Jenni-Juulia ihr Repertoire um Videokunst, Skulpturen, Installationen und Performances erweitert.

In Deutschland wächst das Interesse an ihrem künstlerischen Schaffen.

Aufgewachsen in der vierten Generation mit Sehbehinderung (väterlicherseits) und OI (mütterlicherseits), hat sich ein Lebensstil, mit raffinierten Praktiken der Alltagsbewältigung entwickelt, der von Generation zu Generation weitergegeben wird. So werden z.B. bei einem Knochenbruch der OI-Familienmitglieder gewisse Routinen auf die veränderte Situation umgestellt, um den Alltag so normal wie möglich fortsetzen zu können. Das Leben mit körperlichen Einschränkungen ist für die Familienmitglieder Normalität und zur besonderen Lebensform bestimmt – auch wenn Außenstehende und körperlich Privilegierte diesen Lebensstil als Anpassung, extremen Mut oder auch Überleben einordnen möchten.

Projekt Chairwomen
Projekt Chairwomen

Die finnische Künstlerin Jenni-Juulia will die Wahrnehmung von Behinderung verändern.

Die künstlerische Arbeit setzt mit folgenden Fragen an: Warum sind seltene Erkrankungen nicht als Teil der Bio-Diversität geschützt? Warum bestimmen nicht eingeschränkte Menschen darüber, wie wir leben, welche Hilfsmittel wir nutzen sollen und verweigern uns so die Möglichkeiten zum Ausleben unseres persönlichen Lebensstils? Warum wird Wohltätigkeit mit Menschenrechten verwechselt?

Mit ihren politisch motivierten Werken legt sie den Finger in die Wunde und regt die Zuschauer zum Mitmachen und Nachdenken an. Ihre Kunst ist ein Mittel der Kommunikation, um die Wahrnehmung von Behinderung zu verändern. Dafür nutzt sie alle Mittel.

Tickle the crippled
Tickle the crippled

Ihre schöpferische Ausdrucksweise reicht von Textilkunst über Videokunst, Skulpturen und Installationen bis hin zu Performances

Mit ihrem Projekt Wheelchair piano nutzt sie die Musik als alle verbindendes Element und überwindet so sprachliche Barrieren beim Kontakt von Menschen mit pikanten Merkmalen und körperlich Privilegierten. Bei "Tickle the crippled" bietet sich Jenni-Juulia in einer Blase aus Plexiglas liegend Passanten an, sie über in der Blase integrierte Handschuhe anzufassen. Die unterschiedlichen Publikumsreaktionen spiegeln den Umgang der Generationen wider: Erwachsene sind von Scheu, Unbehagen und Ablehnung erfasst – Kindern gelingt die spielerische Annahme dieses „ungewöhnlichen Angebotes“ leicht. Ein Zeichen dafür, dass sich der Umgang mit Behinderung von „Normalität“ zu „Ausgrenzung“ unter dem Einfluss unserer Gesellschaft im Laufe unseres Lebens entwickelt.

Die Fiebererkrankung ihres Sohnes inspirierte sie zu einer speziellen Bekleidung, dem Thermocromic Fever shirt. Dabei ändert sich die Farbe des Stoffes, sobald die Körpertemperatur auf über 37 Grad steigt. Der Kampf des Körpers gegen eine eindringende Krankheit wird so auf ästhetische Art sichtbar gemacht und in einen positiven Prozess gedeutet.

Beim Projekt Chairwomen wurde eine Situation nachgestellt, in der eine Fußgängerin die körperliche Behinderung einer Rollstuhlfahrerin übernimmt. Die Fußgängerin wurde mit unbeweglichen Beinen auf einen Stuhl gesetzt, was deutlich machen soll, dass die Umgebung selbst oder ein falsch eingestelltes Hilfsmittel der Grund für die Behinderung sein können und den Menschen in eine aussichtslose Position zwängt.

Auch wenn ihre künstlerische Arbeit einen kritischen Blick auf den Umgang unserer Gesellschaft mit Behinderung wirft, ist die Umsetzung immer mit positivem Touch, einer ästhetischen Leichtigkeit, mit Witz und spielerischen Einfällen verknüpft. Sie streckt uns Zuschauern immer die Hand aus und regt uns zur Kommunikation und zum Nachdenken an.

Wheelchair piano
Wheelchair piano

Mehr zu Jenni-Juulia auf http://www.kolumbus.fi/jenni_juulia/

Mehr zur Erkrankung OI/ osteogenesis imperfecata über Deutsche Gesellschaft für Osteogenesis imperfecta (Glasknochen) Betroffene e.V.