23.02.2023

Neuro-Forschung bei Querschnittlähmung: Wissen aus dem Uniklinikum Heidelberg exklusiv für REHAB-Kongressbesuchende

»Neue Entwicklungen in der Neurotechnologie bei Querschnittlähmung« – dieser Vortragstitel im CON.THERA-Kongressprogramm parallel zur REHAB 2023 klingt ein bisschen nach medizinischem Wunder. Was es damit auf sich hat, erläutert Professor Rüdiger Rupp.

„Die Forschung rund um Querschnittlähmung wird gerade hier bei uns am Universitätsklinikum Heidelberg besonders wichtig genommen. Leider haben wir bei großen Projekten, die auf internationale Fördertöpfe angewiesen waren, durch die Coronazeit Stillstand oder sogar Rückschläge verzeichnen müssen“, bedauert Professor Rüdiger Rupp vom Universitätsklinikum Heidelberg.

„Aber dennoch: Aktuelle Studien machen Hoffnung, dass zukünftig einzelne Funktionen durch Stimulationsimplantate direkt am Rückenmark verbessert werden können. Bei einem schwer verletzten Rückenmark speziell bei Hoch-Querschnittgelähmten können mittels Brain-Computer-Interfaces, auf Deutsch Gehirn-Computer-Schnittstellen, auf intuitive Weise Neuroprothesen oder Roboterarme gesteuert werden. Aber: Bevor eine solche High-End-Wissenschaft bei den Patienten ankommt, kann es sehr lange dauern“, so Rupp weiter.

Sein Forschungslabor für Assistive Neurotechnologie hat Professor Rupp direkt neben der Station der Klinik für Paraplegiologie des Uniklinikums Heidelberg. „So können die Ergebnisse unserer Forschung zügig an die Patienten kommen, wir können im direkten Austausch messen und beobachten, wie die Hilfsmittel und Neuroorthesen den Alltag der Betroffenen verändern. Das ist extrem wichtig, denn wir finden nur durch Tests mit Betroffenen heraus, ob sie nur unter Laborbedingungen funktionieren und ihre Alltagstauglichkeit aufgrund komplexen Handlings doch noch nicht gegeben ist.“

Forschungsbereich Paraplegiologie

Der Ingenieur mit Karlsruher Wurzeln hat vor 27 Jahren an der renommierten Klinik für Paraplegiologie in Heidelberg einen eigenen Forschungsbereich etabliert. Über diese Zeit habe sich die Gruppe der Patienten sehr verändert. Das Durchschnittsalter liege inzwischen bei über 60 Jahren, denn nicht mehr die klassischen Motorrad- oder Badeunfälle bei jungen Männern, sondern Diagnosen aus der Neurologie und Orthopädie - wie entzündliche, degenerative Wirbelsäulenerkrankungen oder Tumore - sind heutzutage die häufigsten Ursachen für eine Querschnittlähmung.

Professor Rüdiger Rupp ist im Profilbild zu sehen. Er trägt eine dunkle Brille, lächelt mit Blick in die Kamera, trägt eine blaue Krawatte mit rot-weißen Streifen, ein hellblaues Hemd und ein dunkelblaues Sakko.
Professor Rüdiger Rupp forscht an der Universität Heidelberg schon lange zum Thema Querschnittlähmung.

Nicht-unfallbedingte Lähmungen sind häufig inkomplett mit noch vorhandenen Teilfunktionen. Diese kann man wie bei nichtbehinderten Menschen mit vielen Wiederholungen einer Bewegungsaufgabe verbessern und mit gezielten Übungen trainieren. Hierbei benötigen Patientinnen und Patienten gerade in der frühen Phase Unterstützung bei der Bewegungsausführung, so dass zur Entlastung von Therapeuten immer mehr robotische Trainingsgeräte, beispielsweise der Lokomat, oder auch Exoskelette eingesetzt werden. Das Behandlungsergebnis kann noch deutlich verbessert werden, wenn das Training durch innovative, zum Teil implantierbare Elektrostimulationssysteme unterstützt wird.

„No risk, no fun“

Wieder Professor Rupp: „Aber jede Rückenmarksverletzung und jeder Mensch ist hoch individuell zu betrachten, die Liegezeiten hier in der Klinik sind deutlich kürzer als früher und wir haben viel weniger Zeit, um Patienten für den selbstbestimmten Alltag zuhause vorzubereiten. Hier ist viel Eigenmotivation gefragt. Ganz toll helfen die Peer-Programme der Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten (FGQ). Peers sind Betroffene, die bereits länger Erfahrung im Leben mit Querschnittlähmung haben und als Experten in eigener Sache die Rückkehr in den häuslichen Alltag, das Familienleben und das Arbeitsumfeld mit praktischen Tipps begleiten.“ Professor Rüdiger Rupp engagiert sich seit vielen Jahren als Vorstand in der Deutschen Stiftung Querschnittlähmung, die mit ihrer Präventionskampagne „No risk, no fun“ die Arbeit der FGQ unterstützt.

Fortschritte bei Assistiven Technologien helfen schon jetzt: Mit intelligenten Handschuhen, die mit äußerlich angebrachten Elektroden die gelähmten Muskeln aktivieren, können Betroffene wieder selbständig essen und trinken. Für manche Menschen mit hoher Querschnittlähmung ist die sehr bewusste Steuerung von Armbewegungen und Greifaktionen eines Roboterarms möglich. Allerdings muss die gewünschte Bewegung gedanklich in Teilschritte zerlegt und eine Bewegung nach der anderen durchgeführt werden. Wesentlich schneller und intuitiver lässt sich die Steuerung mit Eye-Trackern in besonderen Brillen umsetzen, so dass der Arm oder der Rollstuhl in die gewünschte Richtung bewegt werden kann. Das Ganze ist aber nicht ganz fehlerunanfällig und nicht für jeden Patienten im Alltag einsetzbar.

Marktplatz auf der REHAB 2023

Auch wenn das Wunder der Heilung einer Rückenmarkschädigung noch in weiter Ferne bleibt, stimmt die große Auswahl an individuellen Hilfsmitteln, digitalen Lösungen, Anwendungen aus der Virtuellen Realität für Alltagsbewältigung und Therapie optimistisch. Auf der REHAB 2023 finden die Anwenderinnen und Anwender Ideen und Kontakte auf den Marktplätzen Mobilität & Alltagshilfen, Gehirn & Neuroreha sowie am Gemeinschaftsstand des europäischen Industrieverbands DATEurope – Digital Assistive Technology.

Annika Gehrmeyer, Projektleiterin der REHAB, freut sich über den Fokus Neurotechnologie bei der REHAB 2023 und dem CON.THERA-Kongress: „Hier sieht man von Messe zu Messe, wie aktuelle Entwicklungen, Verbesserungen und Innovationen immer schneller zu den Menschen kommen, die sie brauchen und nutzen. Kennenlernen neuer Technologien, Ausprobieren und persönlicher Austausch zu hochwertigen Hilfsmitteln wird immer wichtiger.“

Hand-Arm-Nutzung hat höchste Priorität

Professor Rupp resümiert: „Besonders berühren mich immer noch die Badeunfälle von jungen Menschen, denn hier treten oft hohe Querschnittlähmungen in der Halswirbelsäule auf, zumeist motorisch komplett mit wenig Hoffnung auf Erholung. In all den Jahren haben wir gelernt, dass gar nicht das Gehen im Fokus der Menschen mit Querschnittlähmung ist. Vielmehr hat die Hand-Arm-Nutzung höchste Priorität, und auch das möglichst selbständige Blasen- und Darmmanagement sowie die Sexualitätsfunktionen. Da müssen alle Professionen ihren Patienten gut zuhören und zusammenarbeiten, um echte Lebensqualität zu erreichen.“